1. Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
  1. Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.
    – § 211, Strafgesetzbuch

 

8.32 Uhr

Stimmen, Türen, Schritte.

Dies bemerkt man zuerst, denn sie scheinen überall aus dem Hauptgebäude des Amtsgerichts Tiergarten zu kommen, schallen von den hohen Decken, über die Treppen durch die Korridore.

Wie in einer Kathedrale, in der man nur mit gedämpfter Stimme spricht. Man hat das Gefühl, je angestrengter man lauscht, desto penetranter ist es, dass die Stille durch das kaum wahrnehmbare Gemurmel gestört wird.

Stimmen, Türen, Schritte.

Am Eingang stehen Männer und Frauen mit Schutzwesten, eine trägt eine Maschinenpistole, immer zu zweit, an Schleusen mit dicken Stahlgittern, Metalldetektoren und Scannern. „Justiz“.
Auf einem Schild neben einem Zugang steht „Für Schöffen, Berufsausübende, Zeugen mit Ausweis und Vorladung“, eine Reihe bildet sich davor. Menschen, die in ihren Taschen wühlen, Papiere bereithaltend. Der andere Zugang ist leer, für Besucher.

Eine Frau wird abgetastet, „Ausweispapiere und Vorladung“, legt Tasche und Mantel in einen Korb, der durch den Scanner fährt: ein Handy, ein Aktenordner, Brieftasche, Ladekabel, ein iPad. Dies alles geschieht wortlos, ein Ritual, was jeder, der dieses Gebäude betritt, vollziehen muss. Sie geht durch die Schleuse und verschwindet im Inneren.

Christian Morgenstern sagte einmal: „Zeige mir, wie du baust, und ich sage dir, wer du bist.“
Die Eingangshalle erinnert an einen Palast. Keiner dieser goldenen Paläste aus tausendundeiner Nacht. Eher eine graue und strenge Variante davon, mit hohen, gotischen Decken, unter denen man sich demütig klein fühlt. Zwei symmetrische Wendeltreppen schlängeln sich immer wieder von der Mitte in die äußeren Stockwerke, hin und her, Ebene für Ebene, als hätte der Architekt eine Seite gespiegelt.

Es wirkt dominant, fast schon erdrückend. Die verzierten und aufwändigen Verschnörkelungen ziehen sich durch das Geländer über die hohen Gewölbe.

Stimmen, Türen, Schritte.

Die Korridore sind leer, trotzdem hört man die Absätze von Schuhen, die Haupthalle ist ausgestorben, wie ein Monument vergangener Zeiten. Stimmen hallen von der Decke zurück, Flüstern, Türknallen, Räuspern, wie in einem Opernhaus. Ist es hier jemals still, obwohl kein Mensch zu sehen ist?

8.47 Uhr

Der Boden ist aus braunem Linoleum, wie bei Krankenhäusern. Immer wieder flankieren Skulpturen von Göttern und Kriegerinnen die Säulen, in geschwungenen Roben, mit Schwert und Helm.

Manchmal sieht man Sicherheitsbeamte, „Justiz“. Sie nicken sich bei einer Begegnung kurz zu, man kennt sich hier. Eine Gruppe von Anwälten kommt mir entgegen: Sie tragen keine Anzüge, wie im Fernsehen. Ungebügelte Hemden, dunkle Jeans, Rucksäcke der Marke Eastpak, die Haare nass nach hinten geklatscht. Die Frauen tragen einen strengen Dutt, niemand redet, als ob sie ein Gelübde abgelegt hätten.

Stimmen, Türen, Schritte.

Ich setze mich auf eine Bank neben den Saal mit der Nummer 504 und warte. „Treppe D, Zugang zum Portal 6, dritte Strafkammer. Handys sind auszuschalten!“.

Über der beschlagenen Eichentür hängt eine Skulptur. Der Kopf einer Kriegerin, ihr Schwert erhoben, darüber zwei Drachen. Sie blickt in Richtung des Bodens, unter ihr steht etwas auf Latein geschrieben. Ein Sicherheitsbeamter kommt aus dem Saal nebenan raus, setzt sich zu mir, entriegelt sein Smartphone. Ich frage ihn, ob man hier rein- und rausspazieren darf. Er nickt, „Sie sind nicht gefangen!“, lacht und schreibt eine SMS.

Obwohl die Tür zum Saal gegenüber, 509, geschlossen ist, kann man jedes Wort verstehen.

Fall 6, der Fernando und die Alessandra Orocek hielten sich im Auftrag der beiden Angeklagten auf dem U-Bahnhof Zoologischer Garten…“

Zwei Mädchen setzen sich neben mich auf die Bank und kichern. „Das Gesetz ändert sich, das Gewissen nicht – Sophie Scholl“, steht hinten auf ihren Pullis.

„…In Fall 13 stieß der Fernando das Opfer auf der Rolltreppe an, während die Alessandra die Brieftasche ….“

Ein Mann und ein kleiner Junge, möglicherweise sein Sohn, gehen in den Saal, aus dem die Stimmen kommen. Es ist wie die Momentaufnahme eines fast leeren Raumes, wo man nur auf den jungen Staatsanwalt achtet, der sein Mantra von einem Blatt Papier abliest.

„…entwendete dem Opfer wie im vorigen Fall eine Geldscheinrolle mit vierstelligem Wert im S-Bahnhof…“

9.10 Uhr

Es ist voll. Neben den beiden kichernden Mädchen sitzen noch sieben weitere Personen im hinteren Zuschauerbereich von 504, der sich durch ein Holzgerüst vom restlichen Raum abgrenzt. Davor, sechs Justizbeamte mit Schutzweste und Schlagstock, die die Arme verschränkt und den Blick nach vorn gerichtet haben.

Eine Ärztin spricht gerade. Sie sitzt dort, wo die Zeugen sitzen, in der Mitte des Raums direkt vor den Richtern und Schöffen, um auszusagen.

„…bei näherer Untersuchung Faustschläge, einen angebrochenen Brustkorb, Schürfungen und Blutungen, die auf eine konkrete Lebensgefahr deuteten..“

Sie ist jung, trägt ein schwarzes Kostüm und nimmt eine angespannte Haltung an, ihr ist die Sache ernst. Rechts und links von ihr sitzen Anwälte der verschiedenen Seiten, auf der Opferseite sind es drei, gegenüber nur ein Verteidiger. Die Beteiligten schauen auf Laptops, runzeln die Stirn und blättern in ihren Unterlagen.

Dem Opfer wurde durch stumpfe Gewalteinwirkung Teile des Schädels zertrümmert, zudem deutet eine Perforation der Lunge auf…“

Die Blicke der Zuschauer richten sich auf die Holztribüne hinter dem Strafverteidiger. Ein Metallgitter wurde an der Seite befestigt, durch die löchrigen Verzierungen kann man aber die Umrisse der beiden Männer erkennen, die dahinter sitzen. Der eine flüstert in schnellem Türkisch auf den anderen ein. Dieser nickt daraufhin, sagt aber nichts. Er schaut interessiert zum Zeugenstuhl.

Der Verteidiger steht auf und stellt Fragen. Er ist korpulent, gestikuliert viel, eine Hand an seinem Bauch und schaut abwechselnd den Richter und die Ärztin an.

Er fragt, ob es intensiver sei, wenn das Opfer bei solchen Tathandlungen bewusstlos wäre. Ob der Täter die rechte oder die linke Hand benutzt hätte, ob ein Werkzeug im Spiel gewesen wäre, ob es immer noch lebensgefährlich gewesen sei, wenn er losgelassen oder sich der Druck verringert hätte.

Worauf beruft sich die Lebensgefahr konkret?“

  • Kappung der Blutadern, Stauungen, die zu Kopfdruck führen…“

Sind mehrere Tathandlungen möglich, die zum Tod geführt haben?

  • Es könnten zwei Vorfälle möglich sein, da der Hals mehrere Blutergüsse an verschiedenen Stellen zeigt. Er könnte sie mehrfach gewürgt haben.“

Der Richter unterbricht die Befragung und wendet seinen Blick zur Anklagebank. Seine Brille trägt er an der Nasenspitze. Ob man mit dem Übersetzen hinterherkomme, fragt er. Der Dolmetscher nickt mehrmals. „Alles Okay“, sagt er mit fremdländischem Akzent und tippt sich mit dem Zeigefinger an den Daumen, das O.K. Zeichen.

Der Mann neben ihm bleibt still. Immer noch sieht er nicht verängstigt oder nervös aus.

Er schaut nur interessiert.

9. 52 Uhr

Ich habe den Angeklagten in der JVA besucht und befinde ihn als geistig gesund“

Der Leiter der psychiatrischen Abteilung sieht aus wie ein Professor, ist 68 Jahre alt und sitzt mit gekrümmter Haltung auf dem Zeugenstuhl. Er habe mit dem Mann geredet, der heute nur geschwiegen hat.

Der Angeklagte ist Maschinenbauer, auf dem Land nahe Istanbul mit 8 Geschwistern aufgewachsen, gelegentlich neige er zum Jähzorn. Ende 1993 kam er durch eine Eheschließung als Asylbewerber nach Deutschland, kurz darauf ließ er sich wieder scheiden.“

Der Richter blickt dabei den Angeklagten immer wieder an, als suche er die Antwort in einer Reaktion und fragt, ob er den Alkoholkonsum des Angeklagten recherchiert hätte.

An Wochenende beschränkt sich sein Trinkverhalten auf fünf bis sechs Bier und mehrere Schnäpse. In der Tatnacht, am 01. April 2016, hatte er 265 Gramm Alkohol in seinem Körper, dazu mehrere Antidepressiva und Schlafmittel geschluckt, bevor er auf das Opfer eingeschlagen haben soll.“

Der Dolmetscher übersetzt nichts, der Angeklagte blinzelt wiederholt oft und wippt auf seinem Stuhl.

Bei Gelegenheitstrinkern ist diese Menge ausreichend, um handlungsunfähig zu sein, außerdem ist es möglich, unwillentliche Handlungen durchzuführen. Am nächsten Morgen hatte er einen Filmriss.

Der Richter fragt, ob alle Angaben richtig seien, blickt zum Dolmetscher, der wieder nur mehrmals nickt.
„Ja, Ja“, Daumen hoch, O.K. Zeichen.

Als die Beteiligten aufstehen, sitzt der Angeklagte noch und schaut auf den Zeugenstuhl. Er zuckt zusammen, als sein Verteidiger ihm sagt, dass die Verhandlung vertagt wird, wacht auf wie aus einem Tagtraum. Er sagt immer noch nichts, lässt den Blick über den Zuhörerbereich schweifen. Und schaut interessiert.