Alle sechs Minuten versucht sich in Deutschland, ein Mensch umzubringen. Alle 40 Sekunden bringt sich weltweit ein Mensch um. In was für einer Welt leben wir, dass es alle 40 Sekunden ein Mensch nicht mehr erträgt, zu existieren? Menschen gehören zu der raren Spezies, bei der Suizid nachgewiesen werden kann, denn nur wenige andere Lebewesen begehen aktive Selbsttötung. Durch den Selbstmord sterben mehr Menschen als durch Hungersnöte oder Kriege. Dabei liegt die prozentuale Verteilung der versuchten Morde überwiegend auf Seiten der Frauen, wohingegen die tatsächliche Selbsttötung vermehrt von Männern durchgeführt wird. Das liegt daran, dass Männer es direkter und aggressiver angehen als Frauen, welche die schmerzloseren und sanfteren Varianten ‚bevorzugen‘.

Jetzt fragen sich vielleicht viele, wer so egoistisch sei, sich aus dem Leben zu ziehen? Wer ist also so selbstverliebt, sein Leid über das aller anderen zu stellen? Aber kann es nicht auch so sein, dass es egoistisch ist, die letzte ehrliche Entscheidung eines Menschen in Frage zu stellen?

Wir sollten uns nicht das Recht rausnehmen, zu urteilen, wie viel ein Mensch ertragen kann, bevor er seinen selbst gewählten Tod antritt. Denn das Thema der Selbsttötung bandelt auch stark mit der Diskussion um Euthanasie an. Welche Rolle spielt bei diesen sensiblen Aspekten der freie Wille des Individuums? Können wir also einen gesellschaftlich anerkannten Maßstab festlegen, der für ein gewisses Maß an Enttäuschung und Schmerz Selbstmord rechtfertigt? In einer auf maximale Leistung und Perfektion orientierten Gesellschaft kann nicht jeder den gewünschten Standard erfüllen. Ein direkter Vergleich kann, darf und sollte niemals von Individuum zu Individuum gezogen werden. Der eine Mensch hat Schreckliches in der Jugend durchlebt und wird dennoch sein Leben auf die Reihe kriegen und seinen Frieden finden, während ein anderer Mensch ein behütetes Leben führte und bereits an einem Punkt zerbricht, der für uns nicht ersichtlich ist.

Die Welt wurde aus einem universellen Chaos geschaffen und wird ein ewiges Chaos bleiben. Sei es der Rentner, welcher vergessen an Demenz leidend entschließt, mit Restwürde zu sterben; sei es ein Jugendlicher, welcher keinen Ausweg mehr aus einer Depression sieht; sei es ein Schizophrener, welcher sich nicht in seiner eigenen Erkrankung verlieren will; sei es die gestresste Familienmutter, die dem Druck nicht mehr standhält; der Geschäftsmann, der erkannt hat, dass das Leben nicht nur aus Geld besteht oder sei es der Obdachlose, der die Härte seines Lebens nicht mehr erträgt. Geistige Krankheiten, schizoide Störungen und manisch depressive Charakterbetonungen tun dann noch ihr Übriges.

kann man präventiv etwas dagegen unternehmen? Jedes Leben ist wertvoll und wert, gerettet zu werden. Ich rate euch, das Gespräch zu suchen, wenn ihr merkt, dass einer aus euren Reihen abstürzt. Lasst ihn nicht in ein Loch fallen, denn wenn er erstmal den Boden erreicht hat, wird ihm der Aufstieg umso schwerer fallen. Erste Anzeichen sind veränderter Appetit und einseitige Essverhalten, gestörte Schlafrhythmen, Alkohol und Drogenkonsum, andauernde Langeweile und Desinteresse, Rückzug aus Familien- und Freundeskreisen, Abwehr von Lob und Anerkennung, unübliche Vernachlässigung von Hygiene und Bekleidung, das Verschenken von einst geliebten Gegenstände sowie plötzlich auftretende Freude nach einem Tief.

Nichts ist so romantisch an einer ausgewachsenen Depression wie es uns Tumblr und Lykke Li weiß machen wollen. Versteht mich nicht falsch, ich liebe Lykke Li und verbringe mein halbes Leben auf Tumblr…, aber eine Depression mit ausgeprägtem Todeswunsch ist wie ein Krebsgeschwür, das sich schneller ausbreitet als Tumblr-Bilder. Sie taucht auf, ohne dass du es merkst, und dann beginnt sie zu wachsen – jeden Tag. Irgendwann bemerkst du, wie sie dein Leben diktiert, von dir immer mehr fordert und deine Energie frisst. Du wirst dich wahrscheinlich hilflos fühlen dabei, bis du an einen Punkt stößt, an dem es keinen Ausweg zu geben scheint: einen toten Punkt, einen Riss – alle 40 Sekunden.

Wir urteilen nicht, wer das Recht besitzt, über Leben und Tod zu entscheiden, aber möchten an dieser Stelle sagen, dass es keinesfalls Egoismus sein muss.
Bildquelle:  gregmcgregor.tumblr.com