In den vergangenen zwei Jahren kam die größte Flüchtlingswelle  auf Deutschland zu, die es je gegeben hat. Seitdem sind geflüchtete Menschen nicht nur eines der wichtigsten Themen in der Politik, auch im Alltag der normalen Bürger wird man mehr und mehr mit diesem Thema konfrontiert. Die Meinungen schwenken von Schwarz zu Weiß. Neutral bleiben darf (und sollte man) kaum mehr. Aber wer von denen, die mit der Migrationskeule schwingen, hat jemals mit einem Geflüchteten gesprochen?

Es schneit draußen und du läufst barfuß?“, war die erste Frage, die ich Safi stellte. Seine Stimme hat ein sonores Vibrieren, als er lacht und mich in seine Wohnung bittet. Ein paar Schneeflocken folgen durch die Tür.

Die Wärme lässt meine Brille beschlagen. „Im Winter ist es ohne Brille besser.“, höre ich ihn neben mir sagen. Er hat einen Akzent, den man bei vielen Menschen aus dem Nahen Osten hört. Das „S“ gleicht einem Singsang. Ein Mädchen rauscht an uns vorbei, in der Hand hält sie ein iPad. Er ruft ihr etwas auf Arabisch hinterher, der Ton klingt streng. Er schaut mich an, seine Hand deutet einladend auf das Sofa. „Bitte“, sagt er und lächelt.

Safi ist 1,75 Meter groß und obwohl er erst 36 Jahre alt ist, sieht man in seinem schwarzen Haar bereits graue Strähnen. Vor zwei Jahren ist er aus seinem Heimatland Syrien geflohen. Er bietet mir Tee an. Er lächelt, kleine Falten um seine Augen bilden sich. Er wirkt gütig. Und gleichzeitig sieht er unglaublich müde aus.

Safi wächst in einem kleinen Dorf im Süden Syriens auf, gemeinsam mit seinen Eltern, einem Bruder und zwei Schwestern. Alles war aus Stein. Häuser, Mauern, sogar der Esstisch. Zum nächsten größeren Ort muss man 35 Kilometer mit dem Bus fahren, der an nur zehn weiteren Orten hält. Wer keinen Platz im Inneren des Busses findet, muss auf dem Dach Platz nehmen.

Durch seinen Vater, einen Händler, kommt Safi sehr früh nach Damaskus, die antike Stadt. Sie ist der Traum von jedem Syrer. Damaskus gleicht einem riesigen Ameisenhaufen. Staubig, laut und uralt. Safis Onkel hat einen Laden mit arabischer und internationaler Literatur. Als junger Teenager ist er wissbegierig, liest Lenin und Marx. Mit 17 schreibt sich Safi in die Medienfakultät ein, er will Verleger werden.

Nach dem Abschluss übernimmt er den Laden seines Onkels und gründet ein Verlagshaus, das sich auf Philosophie, Menschenrechte und Politik spezialisiert. Er möchte neue Dinge tun, doch das Regime kontrolliert zu streng. Jedes Buch wird Monate überprüft, ehe es vielleicht verlegt wird. Er veranstaltet Buchmessen mit Autoren aus Ägypten, Libanon und dem Sudan, mit vielen ist er befreundet. An einem Tag bemerkt er eine Frau an seinem Stand, sie schaute sich die Bücher an und er fragte, welches ihr am besten gefiel. Sie hat dunkle Augen und ihre langen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Sie heiße Ayasha, sagt sie, und Safi streift mit ihr durch die Straßen, vorbei an Theatern und Museen. Wenige Monate später heiraten sie.

Das Leben ist einfach, aber gut, sie brauchen nur 100 Dollar im Monat. Safis Beruf wird immer gefährlicher, er verlegt nun gesellschaftskritische Novellen und Aufklärer wie Kant und Hegel. Fast alle Zeitungshäuser werden geschlossen, bis auf drei, die vom Regime kontrolliert werden. Aber er hat keine Wahl, er tut es für die Freiheit und möchte nicht mit der Regierung zusammenarbeiten. Sein Vater brachte ihm bei, dass man nur mit eigener Kraft Erfolg haben kann.

Nach seinem 600. verlegten Buch, wird der Laden eines Freunds verwüstet, weil er aufgeklärte Literatur verkaufte. Safi entschließt sich, sein Verlagshaus in Damaskus aufzugeben und im toleranteren Beirut wiederzueröffnen. Kurz vor dem Umzug wird seine Tochter geboren. Er gibt ihr den Namen Naya, was „Reh“ bedeutet, und benennt seine neue Firma nach ihr – Al Naya for studies & publishing.

Als der Wert der syrischen Lira auf ein Zehntel fiel, tauscht Safi einfach die Lebensmittel, die er fand mit seinen Nachbarn. Kohl, Kartoffeln, Tomaten, wenn man Glück hatte.

Als die ersten Bomben auf Damaskus fallen, stoppt alles. Eine Woche gibt es kein fließendes Wasser, kein Gas und Benzin. Zwei Stunden am Tag hat man Strom. Safi entdeckt vor den Trümmern des Hauses gegenüber Kopf und Rumpf seines Nachbarn, mit dem er zuvor noch Gemüse getauscht hat.

Zwei Cousins seiner Frau suchen Zuflucht bei ihm, früher haben sie beim Verteilen von Zeitung geholfen.

Wenige Tage später nehmen Soldaten des Regimes die beiden Cousins, Brüder, mit. Auf der Straße werden sie enthauptet und zerteilt. Sie wollten eigentlich mit dem Auto in den Libanon fliehen.

Safi bringt die Leichenteile in einer Kiste ins Krankenhaus, um nach einer Bestattung zu fragen. Im Eingangsbereich sieht er 25 weitere Menschen mit Kisten. Arme, Beine, Köpfe, Blut. Er kann einen Monat nicht schlafen.

Bilder von toten Jungen, wie das des jungen Aylan Kurdi, der tot an den Strand gespült wurde, sieht Safi jeden Tag, fühlt mit ihnen, als wären es seine eigenen Söhne. Doch so etwas passiert immer. Der Tod ist in Syrien ein Teil des Lebens.

Seine Familie schickt Safi in den Süden von Syrien, nach as-Suwaida, nahe seines Heimatdorfes. Außer ein paar Dieben soll es dort sicher sein. Er selbst plant wie sie, aus Syrien fliehen zu können. Er tut es für seine Tochter, sie soll ein anderes Leben bekommen, mit mehr Bildung, mehr Geld, mehr Sicherheit. Safi will nach Berlin, denn es soll einen ähnlichen Charakter wie das Damaskus haben, das er kennt. Viele Kulturen und offene Leute.

Er fährt mit seiner Familie nach Beirut zur deutschen Botschaft. Mit dem Auto sind es 120 Kilometer. Es ist unkompliziert, manchmal, wenn Grenzpatrouillen kommen, müssen sie sich ducken. Mit Glück bekommt Safi nach wenigen Wochen Visa für seine Familie. Er wird wegen seiner Arbeit als politischer Flüchtling eingestuft und bekommt eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre, kurz darauf fliegen sie nach Deutschland.

Monate später hört er von der Masse der Menschen, die über Griechenland, Moldawien oder die Türkei nach Europa wollen. Viele von ihnen sterben auf der Überfahrt oder in Camps. Jeder sucht doch nur nach Leben an einem sicheren Ort, denkt Safi.

Deutschland ist anders, aber sie sind dankbar, die Deutschen geben viel zu viel. Seine Frau hat gerade ihre Deutschprüfung bestanden, A1, Naya besucht die Grundschule. Safi lernt viele andere Syrer kennen, Ärzte, Journalisten, Ingenieure, er freundet sich mit ihnen an. Gemeinsam wollen sie ein syrisches Café gründen, mit Literatur, Tee und Gebäck.

Viele von ihnen könnten arbeiten und helfen, doch sie warten noch auf die Bescheinigungen der Ämter, manchmal sogar ein halbes Jahr. Ohne Papiere dürfen sie ihrem Beruf nicht nachgehen.

Als der Anschlag in Berlin passiert, trauert Safi, es ist sein neues Zuhause. Diesem Land soll nichts passieren und er will es beschützen, als wäre es sein eigenes.

Einmal trifft er in der U-Bahn eine Gruppe arabischer Jugendlicher, die in ihrer Sprache über die anderen Passagiere spotten, Schimpfwörtern in vulgärer Sprache. Er bittet sie, aufzuhören. „Ist doch kein Problem, niemand versteht uns hier“, sagen sie. „Ich verstehe euch“, antwortete er.

Der Krieg trifft die Kinder und Jugendlichen am härtesten, weil er ihnen jegliche Zukunft raubt, Safi denkt an Naya und die Kinder in den Camps. Sechs Jahre dauert nun der Bürgerkrieg, sechs Jahre ohne Bildung, manchmal ohne Eltern, so verliert man sie. Es ist einfach für ISIS, diese jungen Menschen umzudrehen.

Viele von ihnen wollen eine Ausbildung anfangen, können aber nicht aus den Heimen raus, weil Perspektiven und Papiere fehlen. Safi versteht ihren Frust, er kennt es aus seiner Heimat. In Syrien überlebt man nur, wenn man arbeitet.

Es ist es gut, dass seine Tochter in Deutschland aufwächst. Sie lernt und denkt offener als die alte Generation.

Denn Safi möchte wieder zurück in sein Land gehen. Es ist seine Heimat. Wenn alle das Land verlassen, wer baut es dann wieder auf?

Gestern hat er mit seiner Familie in Syrien gesprochen. Sie sind glücklich, dass er an einem sicheren Ort ist, er ist unglücklich, weil er es nicht mit ihnen teilen kann.

Was vermisst du an Syrien?“, frage ich ihn. „Alles“, antwortet Safi.