Irgendwo im Dschungel, nahe der Stadt Medellín in Kolumbien. Vier mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten stehen am Ende einer Brücke und werden gleich den LkW-Konvoi untersuchen, der vor ihnen hält. Sie wissen, dass es keine harmlose Lieferung ist, denn die Wagen gehören Pablo Escobar (Wagner Moura). Der Leutnant verlangt, die Fracht zu sehen, er deutet mit dem Gewehr auf den vordersten Laster. Ein Mann steigt aus. Er stellt sich vor. Unentmutigt und resolut ertönt die Stimme von Pablo Emilio Escobar Gaviria: Eines Tages werde er Präsident der Republik Kolumbien und entweder sie, die Soldaten, bleiben ruhig und nehmen das Schmiergeld oder sie würden die Konsequenzen kennenlernen. „Plata o plomo?“ Silber oder Blei?

Es ist eine jener Szenen, mit denen alles beginnt. Der Hype, die Aufregung, man spürt praktisch, dass man nach dieser Serie süchtig sein wird. Als Walter White sagte: „Say my name“, wusste man es und als Ned Stark sagte: „Winter is coming“, da wusste man auch, dass es um einen geschehen war. Der kleine, aber feine Unterschied ist, dass Walter White und Ned Stark frei erfunden sind. Es sind Helden und Antihelden, die den Zuschauer einnehmen. Die Hauptdarsteller der Netflix-Serie Narcos sind jedoch kein Resultat kreativer Ergüsse. Bis vor knapp 20 Jahren waren sie sogar noch sehr lebendig.

Seit gut einem Monat läuft jetzt die 2. Staffel des Serienknallers um den legendären Drogenboss – der mächtigste Drogenboss, der jemals auf dieser Erde wandelte, sagen Experten sogar –  und es ist einer der größten Coups, die Netflix gelandet hat. Eine TV-Show, die realitätsnah und fast schon einen dokumentarischen Charakter aufweist, aber trotzdem noch den packenden Charme hat, den eine Netflix Original Serie nun mal besitzt oder besitzen sollte.

Man kann mit dem Verlauf der Show kaum anders, als den Protagonisten zu verinnerlichen, sogar Sympathie für ihn zu erzeugen. Walter White, Severus Snape, Jaime Lannister.. alles Charaktere, die polarisieren, provozieren und sogar Verachtung hervorrufen, zumindest anfänglich, bis sie sich langsam in das Herz des Rezipienten einschleichen. Bei Pablo Escobar ist es ähnlich. Jedes Mal, wenn man sieht, wie er ein Drogengeschäft ausführt, jemandem droht oder einen Mord befiehlt, erscheint Escobar nicht mehr zu sein als ein skrupelloser Verbrecher und dennoch – und das ist wohl das Makabere – wünscht man sich, dass seine Pläne gelingen, dass seine kriminellen Machenschaften erfolgreich sind. Doch ist es nicht eigentlich eine total verdrehte Sache, einen Menschen zu idealisieren, der so viele Gräueltaten vollbracht hat?

Das Online-Portal bento hat eine Umfrage gestartet, was Kolumbianer an der Serie stört. Der Tenor war immer gleich: Die meisten Menschen verbinden mit Kolumbien Drogen und Pablo Escobar. Doch was ist mit den anderen wunderschönen Dingen, die dieses Land zu bieten hat? Dem Kaffee, dem Fußballteam, der Landschaft und der unfassbar schönen Lyrik?

Netflix hat aus der grauenhaften Geschichte des Landes ein Unterhaltungsprogramm gemacht. Unterhalten tut es auf jeden Fall, doch die Sympathie wird nicht in der Serie vermittelt. Escobar dealt, mordet und stürzt fast das gesamte Land in den Ruin. Der Zuschauer idealisiert daher nicht den Menschen an sich, geschweige denn die Taten, die er begangen hat. Eher idealisiert man die Serie, die schauspielerische Leistung und die Dramatik. Deshalb sollte man nicht vergessen, dass der Mann aus der Serie ein Verbrecher ist, der Angst und Unsicherheit geschürt hat, die noch viele Generationen nach seinem Tod anhält. Man sollte das nicht vergessen, selbst wenn man dabei auf dem Sofa sitzt mit Popcorn und Snacks und Netflix einschaltet.

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